Ehrenbürgerwürde für Rita Süssmuth
Kämpferin - Brückenbauerin - Mutmacherin
Herr Bürgermeister,
verehrte Ehrenbürgerin, liebe Rita Süssmuth,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
es ist mir eine Ehre und Freude heute hier sprechen zu dürfen
über eine herausragende Politikerin unseres Landes,
über eine Neusser Mitbürgerin,
und – ich verhehle es nicht – über eine besonders liebe Freundin.
Und an den Anfang stelle ich den Glückwunsch: Herzlichen Glückwunsch zur ganz besonderen Auszeichnung als Ehrenbürgerin unserer Stadt! Ich danke dem Rat der Stadt Neuss, der am 16. Dezember 2022, einer gemeinsamen Initiative von Bürgermeister Reiner Breuer und mir folgend beschlossen hat, Rita Süssmuth das Ehrenbürgerrecht zu verleihen. Die Einstimmigkeit dieses Beschlusses zeigt dabei die herausragende Wertschätzung, die Rita Süssmuth in unserer Stadt über alle Parteigrenzen hinweg genießt. Rita Süssmuth ist die erste Ehrenbürgerin der Stadt Neuss. Mit ihr wurde eine kämpferische Anwältin der Frauen gewürdigt – und zugleich wird in der Erstmaligkeit der Verleihung dieser besonderen Würde an eine Frau deutlich, dass die Arbeit an diesem Ziel der Gleichberechtigung von Frauen und Männern keineswegs abgeschlossen ist.
Rita Süssmuth hat früh in ihrem Berufsleben erfahren, dass Ziele erkämpft werden müssen – schon bei der ersten Bewerbung als Assistentin, dann als Dozentin. Sie war von der Kraft der Argumente überzeugt. So wurde die Wissenschaft zunächst zu dem Ort, an dem sie für die Sache der Frauen stritt. Immer häufiger wurde ihr Rat auch in der Politik gefragt. Damit stellte sich zunehmend auch die Frage nach einem eigenen politischen Engagement. 1981 trat Rita Süssmuth in die CDU ein. Geprägt durch das Elternhaus und die katholische Soziallehre ist sie eine überzeugte und eine überzeugende Christdemokratin. Zugleich bleibt sie ein unabhängiger Geist, was nicht jedem in der eigenen Partei zu jedem Zeitpunkt gleichermaßen gefallen hat. Wer sie für unbequem hält – der macht ihr ein Kompliment. Von 1986 bis 2001 prägt sie als Bundesvorsitzende die Arbeit der Frauen Union der CDU. Ab 1985 ist sie Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, von 1986 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Von 1988 bis 1998 war sie Präsidentin des Deutschen Bundestages – ein Amt das 1972 erstmals von einer Frau übernommen wurde, von Annemarie Renger, die hier in Neuss für die SPD als Bundestagskandidatin antrat. Ihr unermüdlicher Einsatz gilt dem Ansehen des Parlaments als Ort des demokratischen Ringens. Doch auch eine spektakuläre Veränderung des Aussehens des Reichstagsgebäudes ist ganz maßgeblich ihrem beharrlichen Werben um Zustimmung aus allen Fraktionen zu verdanken. Die Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude im Sommer 1995. Rita Süssmuth steht in der Reihe der großen Frauen der deutschen Demokratiegeschichte, zu denen etwa die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert gehört, der wir maßgeblich die Aufnahme der Gleichberechtigung in das Grundgesetz verdanken, oder die katholische Frauenrechtlerin und Christdemokratin Helene Weber sowie Elisabeth Schwarzhaupt, die erste Frau, die ab 1961 einem Bundeskabinett angehörte. Rita Süssmuth hat wahrlich viel erreicht. Oft waren es überparteiliche Frauenbündnisse, mit denen sie Anliegen vorantrieb. Solche Bündnisse waren mitunter nötig, ja bitter nötig, wenn man bedenkt, wie lange es beispielsweise dauerte, bis Vergewaltigung in der Ehe endlich strafbar wurde. Rita Süssmuth hat unsere Partei verändert. Als 2005 Angela Merkel Kanzlerin wird, denkt zwar so mancher Mann: „Ob das gut geht?“ – aber Dank Rita Süssmuth trauen sie sich nicht mehr, es laut zu sagen. Und 16 Jahre später lautet die bange Frage an männliche Kanzlerkandidaten: „Ob sie das wohl so gut können wie Angela Merkel?“ Rita Süssmuth hat nicht nur Erfolge erlebt, sondern auch Scheitern. Und sie hat offen darüber gesprochen, dass zum Kämpfen das Risiko und die Erfahrung des Scheiterns gehört, die Kraft, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Gerade deshalb wurde sie zu einem Vorbild für viele Frauen. Auch in Neuss – seit 1973 ihre Heimatstadt. Auch über Parteigrenzen hinweg. Das weiß ich etwa aus Gesprächen mit unseren stellvertretenden Bürgermeisterinnen Susanne Benary oder Gisela Hohlmann, konnte ich jüngst aber auch bei einer Veranstaltung der Frauen Union zum Weltfrauentag erleben. Rita Süssmuth ist Vorbild als Kämpferin. Zugleich ist sie eine überzeugte Brückenbauerin. Das mag zunächst wie ein Widerspruch erscheinen. Doch immer gilt ihr beharrlicher, ja kämpferischer Einsatz einem guten Miteinander der Menschen, das niemanden ausschließt, das Chancen eröffnet, das Gräben überwindet. Das gilt für unsere Gesellschaft wie für das Verhältnis zwischen Ländern und Völkern. Die deutsch-französische Freundschaft wird der Romanistin früh zu einem ganz wichtigen Anliegen, prägten sie doch Jahre als Au-pair, und als Studentin in Frankreich, in Dijon und Paris. Später sind es vor allem die Beziehungen zu Polen aber auch zu Tschechien, der Slowakei und Ungarn, die sie voranbringen möchte und die zugleich ein Herzensanliegen ihres Ehemannes Hans Süssmuth sind. Unerwähnt bleiben darf nicht ihr besonderer Einsatz für die deutsch-israelischen Beziehungen, der zu einer engen persönlichen Beziehung zu Shimon Peres führte. Schließlich ist sie seit 2010 Präsidentin des Konsortiums der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, unterstützt so den Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beider Länder. Zusammenführen – Gräben überwinden – das prägt auch ihr Wirken in unserem Land. Sie streitet für die offene Gesellschaft, unsere freiheitliche Demokratie – gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Rassismus. Herausragendes leistet sie beim Einsatz für eine menschliche Politik, als die vor allem sexuell übertragbare Infektionskrankheit AIDS ab 1981 Angst und Schrecken verbreitet. Denn diese Angst, die gerade die ersten Jahre nach Auftreten der Krankheit und vor Entwicklung wirksamer Medikamente bestimmt, führt schnell zur Ausgrenzung von Erkrankten, aber auch vor allem von homosexuellen Männern, die in besonderer Weise von der Krankheit betroffen sind. Vorurteile gegen Homosexuelle gipfeln in dem Vorwurf an die Infizierten, sie seien ja selbst schuld. „Schutz vor der Seuche: Meldepflicht für AIDS?“ titelte der Spiegel. Gegen Stigmatisierung setzt Rita Süssmuth auf Solidarität, auf Aufklärung, auf Hilfe und Unterstützung. Sie zeigt damit, was es bedeutet, dem Grundprinzip unserer Verfassung „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ Geltung zu verschaffen – gegen Angst und Ausgrenzung. Dieser Weg ermöglicht erfolgreiche Aufklärung, führt zu einem ganz erheblichen Rückgang von Neuinfektionen, wird schließlich weltweit zum Vorbild. Diese Erfahrung der Stärke der Solidarität hat unserer Gesellschaft gut getan. Herzlichen Dank! Sozialer Zusammenhalt, das ist es auch, was Rita Süssmuth in besonderer Weise mit ihrer Heimatstadt Neuss verbindet. Dass Menschen sich einbringen, Verantwortung für ihre Mitmenschen übernehmen – beginnend in der Nachbarschaft bis hin zur gemeinschaftlichen Hilfe für Flüchtlinge aus aller Welt, für die Menschen in der Ukraine, für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien. Für Rita Süssmuth ist stets klar: ein Gemeinwesen kann nur erfolgreich sein, wenn sich möglichst viele Menschen einbringen, als mündige Bürgerinnen und Bürger, die sich ihrer Verantwortung stellen. Die Politik hat dabei die Aufgabe, den Rahmen für solches Mittun zu schaffen, Menschen in diesem Engagement zu unterstützen. Zu dieser Überzeugung passt ihr fast drei Jahrzehnte währendes Engagement als Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes, dessen Ehrenvorsitzende sie seit 2015 ist. Mitgestaltung des Gemeinwesens gestaltet sich vor allem vor Ort. Rita Süssmuth hat stets betont, dass ehrgeizige Ziele und die Wertschätzung auch für kleine Schritte hin zu diesen Zielen zusammengehören. Auch wenn ihre politische Heimat Niedersachsen war, so nahm sie doch auch am gesellschaftlichen Leben in Neuss, in ihrer Heimat, teil. Dazu trug nicht zuletzt ihr Ehemann Hans Süssmuth bei, der früh zu den Neusser Rotariern fand, die Arbeit des Neusser Stadtarchivs unterstützte, schließlich bei den „Novesen“ im Neusser Schützenfest mitmarschierte. Oft erdete er unsere gemeinsame Diskussionen mit der Frage: „Und was bedeutet das jetzt für uns in Neuss?“ Rita Süssmuth die Kämpferin, die Brückenbauerin. Und abschließend: die Mutmacherin. Rita Süssmuth hat viele Menschen ermutigt. Dabei hat sie sich gerade an junge Menschen gewandt, etwa in einem sehr persönlichen Buch, das einen Brief an ihre Enkel formuliert, unter der Überschrift: „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“. Traut euch etwas! Habt keine Angst! Sucht den Menschen, nicht seine Schwächen! Geht euren Weg! Sie ist eine Mutmacherin, weil sie den Menschen etwas zutraut. Als Kämpferin, als Brückenbauerin und als Mutmacherin tut Rita Süssmuth unserem Land gut. Und unserer Heimatstadt Neuss. Wir sind stolz auf sie! Wir sind stolz auf dich, liebe Rita Süssmuth!