Gespräch mit dem Magazin EiNS
Herr Gröhe, seit einem Jahr beschäftigt uns die Corona-Krise. Wie nehmen Sie die Rolle der Kirchen dabei wahr?
Ich erlebe in diesen schwierigen Monaten viel Ideenreichtum und Einsatz in unseren Kirchen. Wenn ich etwa in meine evangelische Ortsgemeinde schaue, dann geht es immer darum, wie wir Menschen trotz ausfallender Gottesdienste und weitgehender Kontaktbeschränkungen erreichen und ihnen helfen. Ob im Besuchsdienst oder bei sogenannten „Gabenzäunen“ für Bedürftige: Immer waren Menschen aus evangelischen und katholischen Kirchengemeinden, aber auch aus Freikirchen, vorneweg. Viele bieten seit Monaten Gottesdienste und Gespräche über das Internet an. Geistliche haben ihre Handynummer veröffentlicht und Gespräche vor allem für Kranke und Einsame angeboten. Es wird den Kirchen daher Unrecht getan, wenn behauptet wird, sie seien in der Krise unsichtbar.
Große Hoffnung ruht jetzt auf den Impfstoffen, mit denen die Menschen seit Jahresende geimpft werden. Zugleich wird auch heftig über die Impfung gestritten.
In der Politik besteht große Einigkeit, dass es eine Impfpflicht nicht geben wird. Zugleich erschreckt mich eine faktenfreie Stimmungsmache gehen das Impfen, hinter der oft eine verbohrte Ablehnung moderner Medizin steckt. Leider beteiligen sich mitunter auch Christen daran. Mancher verharmlost die Pandemie, als gehörten Krankheiten gleichsam zur Schöpfung. Ich halte dagegen: Der menschliche Geist, der Impfstoffe erfindet, ist auch ein Bestandteil von Gottes guter Schöpfung! Unsere Impfstoffe werden umfassend geprüft. Und die Risiken und Nebenwirkungen sind weit geringer als die mit der Erkrankung selbst verbundenen Gefahren. Wir können, so denke ich, dankbar sein, dass wir in einem Land leben, in dem diese Möglichkeiten der modernen Medizin den Menschen unabhängig von ihrem Einkommen zur Verfügung stehen. Es beschämt mich sehr, dass weltweit gesehen Milliarden Menschen diese Möglichkeiten nicht haben. Darum: Es muss einen Corona-Impfstoff auch in Afrika geben! Die reichen Industrienationen werden zu einem wirklichen Kraftakt bereit sein müssen, um den Corona-Impfstoff auch in den ärmsten Ländern der Welt zur Verfügung zu stellen. Da geht es um Solidarität, aber auch um unser eigenes Interesse: Diese Pandemie ist erst besiegt, wenn sie überall besiegt ist!
Zum Thema Impfstoffe: Als Gesundheitsminister sind Sie auch Bill Gates begegnet – über den es unter Impfgegnern böse Behauptungen und Verschwörungstheorien gibt, die auch unter Christen verbreitet sind. Was ist Gates für ein Mensch?
Ich habe Bill Gates als eine eindrucksvolle Persönlichkeit kennengelernt und bin entsetzt, in welcher Weise gegen ihn gehetzt wird. Mancher, der seine wohltätigen Aktivitäten kritisiert, kritisiert ja eigentlich, dass Privatpersonen überhaupt solch gewaltigen Reichtum besitzen – und das ist eine ernstzunehmende ethische Diskussion. Aber wenn sich jemand wie Bill Gates entscheidet, mit seinem Reichtum etwa die Verteilung von Impfstoffen in Entwicklungsländern massiv finanziell zu unterstützen, dann finde ich das großartig. Es zeigt, er nimmt die mit Reichtum verbundene Verantwortung ernst.
In vielen gesellschaftlichen Diskussionen wird in diesen Monaten unterschwellig Böses unterstellt, es geht Vertrauen verloren. Was kann man dem entgegensetzen?
Wir haben in den letzten Jahren viele Vertrauenskrisen erlebt: den unsäglichen Missbrauch in den Kirchen, den Betrugsskandal in der Automobilindustrie, die Frage, ob das Fußball-„Sommermärchen“ 2006 vielleicht gekauft war, und leider auch Skandale in der Politik. Und die Wahrheit ist: Vertrauen erarbeitest du dir nur den Berg hoch. Es geht schnell verloren, wird aber nur langsam zurückgewonnen. Auch über die Corona-Krise hinaus wird uns das Thema Vertrauen in der Gesellschaft beschäftigen.
Um Vertrauen aufzubauen, sind mir persönlich vor allem direkte Gespräche wichtig, gerade mit jungen Menschen. Daher versuche ich, jede Einladung in Schulklassen, aber auch von Gemeinden oder Vereinen anzunehmen.
Viel diskutiert ist in den vergangenen Monaten die Frage der Freiheitsrechte im Verhältnis zu den Corona-Maßnahmen. Zugespitzt gefragt: Warum sind wir in Deutschland mit der Regierung Merkel nicht auf dem Weg in die Diktatur?
Solche Vorwürfe sind wirklich absurd – und eine unerträgliche Verharmlosung von Diktaturen. Unsere Regierung braucht das Vertrauen des Parlaments, welches die wesentlichen Weichen stellt. Gesetze können zudem vom Bundesverfassungsgericht, behördliche Maßnahmen von den Verwaltungsgerichten überprüft werden. Viele demokratische Nachbarländer gehen in ihren Freiheitsbeschränkungen deutlich weiter. Wir tun uns damit zurecht sehr schwer.
Beim Thema Vertrauen interessiert uns – im Rahmen der Evangelischen Allianz – natürlich die öffentliche Wahrnehmung besonders der evangelikalen Christen. Wenn Sie an Evangelikale in Deutschland denken, dann …?
… denke ich an viele im besten Sinne fromme Frauen und Männer, für die es dazu gehört, einladend über ihren Glauben zu sprechen. Unser Land ist stark geprägt von christlichen Wertvorstellungen. Der christliche Glaube ist eine entscheidende Kraftquelle für viele, auch für mich persönlich; eine Quelle, die auch unserer Gesellschaft guttut. Leider entsteht ein Zerrbild von evangelikalen Christen durch „Lautsprecher“, deren Tonlage eher durch Stimmungsmache gegen Flüchtlinge, Muslime, Homosexuelle oder auch Impfstoffe geprägt ist, als von der wunderbaren Botschaft unseres Glaubens.
Wie werden denn Evangelikale überhaupt im Land wahrgenommen?
Ich wünsche mir mehr Differenzierung! Es ist unfair, wenn insbesondere einige Medien ein Bild zeichnen, wonach die Evangelikalen vor allem Corona-Leugner, Schwulenhasser und Trump-Fans sind. Gegner jeder religiösen Überzeugung freuen sich, wenn sie einzelne evangelikale Stimmen für ein derartiges Zerrbild missbrauchen können. Da wird eine schreiende, den Sieg von Trump verkündende Predigerin zum „viralen Hit“ in den sozialen Medien. Aber wer weiß schon – auch unter Christen! -, dass ein ganz herausragender Forscher wie Francis Collins, der Chef der National Institutes of Health der USA, zugleich ein überzeugter evangelikaler Christ ist.
Viele Kritiker wollen nicht wahrhaben oder nicht öffentlich machen, in welch eindrucksvoller Weise sich gläubige Christinnen und Christen für ihre Mitmenschen, gerade auch für Flüchtlinge und für Menschen in Entwicklungsländern, einsetzen. Über solchen Einsatz für unser Gemeinwesen sollten auch evangelikale Christen durchaus selbstbewusst sprechen.
Wir hören gelegentlich, es sei wichtig, mit einer Stimme zu sprechen, wenn man gehört werden will. Das impliziert, alle Christen müssten die gleiche Meinung vertreten. Dabei ist klar, dass angesichts der Komplexität der Fragen ganz unterschiedliche Weltsichten und Sozialisierungen zum Tragen kommen. Was tun?
Natürlich wünschen sich viele Christinnen und Christen, gerade bei wichtigen ethischen Fragen, eine gemeinsame christliche Position. Da gibt es eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Und natürlich gilt: Uns eint die Wertschätzung für die Familie und das Leben, die Ablehnung von Rassismus, der Wunsch, die Schöpfung zu bewahren. Aber auch Christinnen und Christen haben unterschiedliche Auffassungen: Wie schütze ich ungeborene Kinder wirksam? Wie diene ich dem Weltklima bestmöglich? Wie kämpfe ich gegen Rassismus und Antisemitismus? Was dient dem Frieden?
Auch wenn Christinnen und Christen hier zu unterschiedlichen Antworten kommen, so können sie durch ein gutes, vom gemeinsamen Glauben geprägtes Miteinander doch zu einer guten Streitkultur beitragen, auf die unsere Demokratie dringend angewiesen ist. Gegen gesellschaftliche Spaltungen sollte unser Tun stets dem Zusammenhalt in der Gesellschaft dienen.
Der neue Präsident Joe Biden wird in den USA und auch in Deutschland von Christen kritisiert, weil er, so die Behauptung, sofort die Abtreibung freigeben würde. Wie denken Sie darüber?
Erst einmal ist das eine Verkennung der Macht des Präsidenten. Es gibt dazu eine Rechtsprechung und die Gesetzgebung in den Bundesstaaten. Ich selbst bin für den Schutz des Lebens ungeborener Kinder. Insofern verstehe ich, wenn Christen in den USA Organisationen wie „Planned Parenthood“ kritisch gegenüberstehen. Andererseits macht diese Organisation in den USA wichtige Angebote, die jeder Christ mittragen kann: Brustkrebsuntersuchungen, Begleitung von Schwangeren und jungen Familien sowie Beratung bei frauenspezifischen Gesundheitsfragen. Ohne solche Organisationen hätten gerade ärmere Menschen in den USA keinen Zugang zu diesen Leistungen, die bei uns für alle selbstverständlich sind. Ich glaube auch nicht, dass ein strafrechtliches Verbot von Abtreibungen ungeborenes Leben wirklich wirksam schützen kann. In jedem Fall finde ich es unangemessen, die Bewertung von Biden und Trump allein an dieser Frage festzumachen.
Nach Deutschland geblickt: In welchen Fragen sollten Christen sich gesellschaftlich engagieren?
In den Mittelpunkt unseres Engagements gehören sicherlich die Verteidigung der gleichen Würde jedes menschlichen Lebens und der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Wir dürfen nicht schweigen, wenn vorgeburtliche Untersuchungsmethoden das Lebensrecht behinderter Menschen in Zweifel zu ziehen drohen, oder wenn Selbsttötungshilfe zu einer normalen Behandlungsmethode werden kann. Rassistischen, juden- und islamfeindlichen Stimmen – auch unter Christen – müssen wir klar entgegentreten.
Für mich als Politiker gilt: Wir sollten genau hinhören, wenn uns das Evangelium oder kritische Anfragen provozieren. Es ist gut, wenn sich Christdemokraten zum Nachdenken über die Flüchtlingspolitik provozieren lassen und Grüne zum Nachdenken über das Lebensrecht ungeborener Kinder.
Evangelikale Stimmen sind auch wichtig, wenn sie weltweit einem guten Miteinander unterschiedlicher Religionen, der Religionsfreiheit, das Wort reden.
Der Beauftragte der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, Markus Grübel, hat jetzt den 2. Bericht der Bundesregierung zur Lage der Religionsfreiheit vorgelegt. Was bedeutet es, wenn das Parlament einen solchen Bericht verabschiedet?
Wenn Markus Grübel exemplarisch über 30 Länder berichtet, dann werden 30 deutsche Botschaften gebeten, etwas zur Religionsfreiheit in Ägypten, in Bangladesch, in Kenia … in Erfahrung zu bringen. Das prägt auch die Arbeit der deutschen Auslandsvertretungen. Zweitens: Eine Parlamentsdebatte und der Bericht eines Regierungsbeauftragten schaffen Öffentlichkeit. Das Thema rückt damit auch in der Außenpolitik ins Bewusstsein. Es wird wahrgenommen in den Partnerländern, dass Religionsfreiheit ein Thema für uns ist. Ganz wichtig ist das Thema Konversion: die Freiheit, die Religion zu wechseln. Da droht Menschen in vielen Regionen der Welt eine massive gesellschaftliche Ächtung, in einigen sogar die Todesstrafe. Deshalb ist es so wichtig, das fortwährend öffentlich zum Thema zu machen.
Bleiben wir beim Thema gesellschaftliche Verantwortung. 2021 ist Wahljahr, mit der Bundestagswahl im September. Was rät der „Religions-Beauftragte“ der Unionsfraktion mit Blick auf eine gute Politik- und Debattenkultur?
Wir brauchen politisches Interesse nicht nur vor Wahlen. „Aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten“ sind dabei mit den Worten von Dietrich Bonhoeffer unsere Aufgaben als Christinnen und Christen. Ich freue mich, wenn in einem Gottesdienst Fürbitte gehalten wird „für die, die in Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragen“. Aber richtig gut wird’s, wenn ich dabei auch weiß: Wie heißt eigentlich mein Bürgermeister? Unsere Landrätin? Wenn ich auch den Namen meines Bundestags- oder Europaabgeordneten nenne.
Und es wäre mein Wunsch, dass Gemeinden ihre Mitglieder auch zum öffentlichen Engagement ermutigen. Ob Elternvertretung oder Betriebsrat, Bürgerinitiative oder demokratische Partei: Es gibt viele Möglichkeiten, unser Gemeinwesen mitzugestalten. Gemeindemitglieder zu solchem Tun zu ermutigen, auch wenn darunter die Zeit für die Gemeinde leidet, und sie mit Fürbitte zu begleiten, ist wichtig.
Welche – ethischen – Themen werden uns in den nächsten Jahren vordringlich beschäftigen?
Dank des medizinischen Fortschritts und einer gesünderen Lebensweise erreichen immer mehr Menschen bei uns ein hohes Lebensalter. Damit sind auch Herausforderungen in Pflege und medizinischer Versorgung verbunden, die wir nur durch ein gutes Miteinander der Generationen meistern können. Zugleich sollten wir junge Familien noch besser unterstützen.
Und bei allen – ich formuliere das bewusst so – „Segnungen moderner Medizin“ brauchen wir auch einen „zwischenmenschlichen Fortschritt“ gegen die sich immer mehr ausbreitende Einsamkeit vieler Menschen.
Das andere ist – und da hoffe ich auf die internationalen Kontakte auch der Evangelikalen: Die großen Zukunftsfragen sind Fragen der Menschheitsfamilie. Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist eine globale Aufgabe. Gleiches gilt für den Klimaschutz und die bittere Armut in vielen Teilen der Welt. Da einen Blick dafür zu haben, dass wir vor großen Herausforderungen als Menschheitsfamilie stehen, ist ein Auftrag gerade für uns Christen. Gegen die Versuchung, sich nationalistisch abzuschotten, sollten Christinnen und Christen die Überzeugung stellen, dass wir eine Menschheitsfamilie sind.
Schließlich: Dass in zahlreichen Gemeinden für Politikerinnen und Politiker gebetet wird, bedeutet vielen etwas. Mir haben schon Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, die ich eher für glaubensdistanziert halte, gesagt: Wenn mir jemand sagt „Wir beten für Sie!“, dann empfinde ich das als Zuwendung und als Wohlwollen. Insofern mache ich Mut, das nicht nur zu tun, sondern auch darüber zu sprechen.
Viel zu tun also. Und zu beten. Vielen Dank für das Gespräch!