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Urteil zur Selbsttötungshilfe: Hermann Gröhe im „Tagesspiegel“-Interview

Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt über die seit 2015 geltende Regelung zur Selbsttötungshilfe entschieden. Wie schon bei der mündlichen Verhandlung im April 2019 war Hermann Gröhe bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe vor Ort. Im Anschluss gab der dem Berliner „Tagesspiegel“ ein Interview zum Urteil, in dem er sein Bedauern klar zum Ausdruck brachte. Nun gelte es, der Gefahr, dass organisierte Selbsttötungshilfe zum normalen Behandlungsangebot werde, entschieden entgegenzutreten.

 

Das vollständige Interview finden Sie auch hier.

Herr Gröhe, das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot von geschäftsmäßiger Sterbehilfe aus dem Jahr 2015 kassiert. Sie waren damals Gesundheitsminister, haben sich für dieses Gesetz auch persönlich starkgemacht. Was empfinden Sie angesichts des Richterspruches?

Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ein Schutzanliegen des Gesetzgebers anerkannt. Es hat auch die Gefahren angesprochen, die von einer ungeregelten Zulässigkeit organisierter Selbsttötungshilfe ausgehen können. Gleichzeitig hat es den Paragrafen 217 aufgehoben, weil er zu sehr in die Selbstbestimmungsrechte Selbsttötungswilliger eingreife. Man wird nun genau zu prüfen haben, was das bedeutet und wie man darauf reagieren kann. Ich bedauere dieses Urteil, denn ich befürchte, dass es entgegen dem Wortlaut der Entscheidung einer gesellschaftlichen Entwicklung Vorschub leisten kann, die zu einer Gewöhnung an Selbsttötungshilfe als Behandlungsmöglichkeit führt. Das wäre eine ganz verhängnisvolle Entwicklung, vor der ich nur warnen kann.

 

War der Gesetzgeber zu nachlässig, als er dieses Verbot beschlossen hat?

Der Bundestag hat in zwei Legislaturperioden, in Expertenanhörungen und verschiedensten Gesetzesinitiativen sehr intensiv geprüft, was der richtige Weg ist. Eine Mehrheit der Abgeordneten hat die Strafbewehrung für richtig und verfassungskonform gehalten. Sie dürfen ja nicht vergessen: Auch beim nach wie vor unumstrittenen Verbot einer Tötung auf Verlangen wird in die Selbstbestimmung eingegriffen. Und die Hinweise, die uns das Bundesverfassungsgericht jetzt gegeben hat, sind ebenfalls nicht dazu geeignet, ruckzuck in ein Gesetz zu übertragen zu werden. Dafür ist die Materie zu komplex. Wir haben damals gründlich und nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Das werden wir jetzt wieder tun.

 

Wie sollte die Politik aus Ihrer Sicht auf den Richterspruch reagieren?

Wir brauchen jetzt ein gründliches Beratschlagen. Dabei geht es nicht nur um Juristisches, sondern auch um Fragen der Medizin und der Psychologie. Wie lässt sich erkennen, ob sich ein Wille zum Suizid selbstbestimmt gebildet hat? Wie verhindert man fragwürdige Beeinflussung? Wenn Menschen in Umfragen oft sehr undifferenziert sagen, dass die Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt sein sollte, steckt dahinter oft auch große Angst vor Krankheit, Leid, Pflegebedürftigkeit. Das muss uns Anlass sein, den Weg zur Stärkung der Pallativmedizin, der Pflege, der Begleitung im Hospiz entschlossen weiterzugehen. Hier setzt uns das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich keine Grenzen. Im Gegenteil, es würdigt diese Anstrengung.

 

Befürchten Sie denn, dass unsere Gesellschaft im Umgang mit der Sterbehilfe einen ähnlichen Weg einschlagen könnte wie die Benelux-Staaten, wo inzwischen auch aktive Sterbehilfe erlaubt ist?

Bei einer Überbetonung des Selbstbestimmungsrechts sehe ich durchaus die Gefahr, dass wir eine Entwicklung nehmen wie in Holland oder in Belgien und Luxemburg, wo es mit der Erlaubnis von Selbsttötungshilfe begann und heute auch Tötung auf Verlangen, in bestimmten Fällen sogar bei Minderjährigen und psychisch Kranken, möglich ist. Ich finde für die Sterbehilfe deshalb das Bild von der abschüssigen Bahn zutreffender als das eines Dammbruchs. Wir dürfen uns keinesfalls an Selbsttötungshilfe als Behandlungsmöglichkeit gewöhnen.

 

Und zu dieser gesellschaftlichen „Gewöhnung“ tragen aus Ihrer Sicht geschäftsmäßige Sterbehelfer bei?

Die beschwerdeführenden Vereine haben in ihrer Satzung stehen, dass sie eine andere gesellschaftliche Einstellung zur Selbsttötung wollen. Das ist bei denen ja nicht die unbeabsichtigte Nebenfolge einer vermeintlichen Hilfeleistung. Wissen Sie: Unsere Gesellschaft gibt Millionen zur Suizidprävention aus. Diesen Anstrengungen wird ein Bärendienst erwiesen, wenn gleichzeitig organisierte Selbsttötungsangebote möglich sind.

 

Was bedeutet das Urteil für Palliativmediziner und Hospizmitarbeiter?

Die allermeisten haben das Verbot ausdrücklich unterstützt - und von einigen dieser Menschen, die sich unglaublich engagiert für Sterbende und Schwerstkranke einsetzen, habe ich bereits sehr bekümmerte Reaktionen erhalten. Ihnen jetzt den Rücken zu stärken, auch wenn sich das gesellschaftliche Klima verändern mag, halte ich für ganz wichtig. Neben der rechtlichen Sicherstellung von autonomen Entscheidungen ist die Stärkung der Palliativmedizin und der Hospizdienste jetzt von zentraler Bedeutung. Ich bin froh, dass es dazu in der Politik einen breiten Konsens gibt.