Herr Gröhe, nach der verpatzten Bundestagswahl werden Forderungen nicht nur nach einer personellen, sondern auch nach einer programmatischen Erneuerung der CDU laut. Stimmen Sie zu?
HERMANN GRÖHE Ja, wir brauchen ein neues Grundsatzprogramm. Wir sollten uns dabei aber genügend Zeit nehmen, aus meiner Sicht zwei, besser drei Jahre. Ein Schnellschuss, in dessen Mittelpunkt dann eher die Aufarbeitung der Vergangenheit oder ein Abarbeiten an einer Ampelkoalition stehen würde, wäre eine verpasste Chance. Ins Zentrum eines neuen Programms gehört unser Bild von der Zukunft!
Was gehört dazu, was bislang nicht oder nicht ausreichend im Grundsatzprogramm enthalten ist?
GRÖHE Es geht darum, wie wir unsere christlich-demokratischen Überzeugungen in den großen Zukunftsfragen zur Geltung bringen. Was leitet uns bei der Umgestaltung der Industriegesellschaft hin zur Klimaneutralität, bei einer entschlossenen Digitalisierung, bei der Sicherung unserer Wettbewerbsfähigkeit und der dauerhaften Verlässlichkeit unseres Sozialstaates oder auch angesichts tiefgreifender Veränderungen in der Welt, die Europa herausfordern? Zugleich geht es darum, unsere Antworten im intensiven Gespräch etwa mit der Wissenschaft, den Sozialpartnern, den Kirchen, der Zivilgesellschaft insgesamt zu erarbeiten – vom Kreisverband bis hin zur Bundespartei. Die gesamte Partei muss kraftvoll neu nachdenken. Schon dieser Prozess hat einen Wert an sich!
Warum sind Grundsatzfragen in der Union in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen?
GRÖHE Das jeweils aktuelle Regierungshandeln hat unsere Arbeit bestimmt – auch bei den letzten Beschlussfassungen unserer Grundsatzprogramme. In unserer Oppositionszeit in den Siebziger Jahren wurde dagegen die Erarbeitung des Grundsatzprogramms unter Leitung von Richard von Weizsäcker genutzt, um in einen mehrjährigen Prozess auch das Gespräch mit den führenden Köpfen der damaligen Zeit einzubeziehen. Das würde uns auch jetzt gut tun!
Warum konnte die CDU ihr Programm vor der Wahl so schlecht vermitteln?
GRÖHE Nach 16 Jahren Regierungsverantwortung war es schwer, den Stolz auf Erreichtes und den Willen zur umfassenden Modernisierung miteinander zu verbinden.
War die Union zu schwach oder die SPD zu stark?
GRÖHE Unsere eigene Schwäche, nicht die Stärke der SPD, hat zu dieser schweren Niederlage geführt. Zugleich hat es die SPD geschafft, einerseits die eigenen Reihen mit einem eher linken Programm zu schließen, gleichzeitig aber die bisherigen Merkel-Wähler anzusprechen. Und sie haben, auch als die eigenen Umfragen sehr schlecht waren, geschlossen und fleißig Wahlkampf gemacht, auch hier bei uns vor Ort. Nun muss es unser Anspruch sein, uns mit Klugheit und Fleiß aus dem Tal herauszuarbeiten!
Wer soll nach Armin Laschet die CDU führen?
GRÖHE Dazu äußere ich mich erst, wenn klar ist, wer dazu bereit ist. Dass wir einen personellen Neuanfang machen, ist richtig. Dabei ist es ehrenhaft, dass Armin Laschet nicht nur für eigenen Fehler Verantwortung übernimmt, sondern für ein Ergebnis insgesamt, an dem auch andere ihren Anteil hatten.
Wie umfassend soll der personelle Neuanfang sein?
GRÖHE Wir werden ja den Bundesvorstand insgesamt neu wählen. Und dabei geht es vor allem darum, die engere Führung, also Vorsitzender, stellvertretende Vorsitzende, Präsidium, als Team neu aufzustellen. Es geht bei einer Neuaufstellung unserer Partei aber um mehr als um einem Austausch von Köpfen. Es geht um eine kluge Mischung von neuen Ideen – der Jüngeren, aber auch berufserfahrener Quereinsteiger – und von vorhandenen Erfahrungen.
Wollen Sie als Mitglied des CDU-Bundesvorstandes und stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag weitermachen?
GRÖHE Darüber wurde in den zuständigen Gremien noch nicht gesprochen. Ich bin aber bereit, in beiden Bereichen weiterzumachen, zumal wir bei den Beisitzerinnen und Beisitzern im Parteivorstand schon im letzten Jahr eine deutliche Verjüngung vorgenommen haben. Ich denke, dass ich in Partei und Fraktion zu einer erfolgreichen Neuaufstellung beitragen kann.
Sie sind ja auch als stellvertretender Bundestagspräsident aus den Reihen der Union im Gespräch. Würden Sie das Amt übernehmen wollen?
GRÖHE Natürlich haben mich entsprechende Vorschläge gefreut. Aber die CDU tut gut daran, in den weniger gewordenen sichtbaren Positionen Frauen angemessen zu berücksichtigen. Das gilt auch hier. Eine gute Teamaufstellung muss da Vorrang haben.
Welche Stimmen der Parteibasis hören Sie zum Erneuerungsprozess?
GRÖHE Da gibt es durchaus unterschiedliche Erwartungen. Einerseits geht es um eine stärkere Beteiligung der Basis. Andererseits wird erwartet, dass sich die Handelnden einigen und der Partei keinen Dauerstreit zumuten. Letztlich wird es darauf ankommen, ob eine Lösung für die Parteispitze überzeugt. Die Lösung mit Hendrik Wüst als Nachfolger für Armin Laschet im Amt des NRW-Ministerpräsidenten, gefunden im Landesvorstand und der Landtagsfraktion, hat die Partei erkennbar überzeugt und wird deshalb akzeptiert und für gut befunden.
Das war nach der Entscheidung des CDU-Bundesvorstandes für Armin Laschet als Kanzlerkandidat anders?
GRÖHE Es gab eine fortgesetzte Debatte und ein Hadern erheblicher Teile der Partei mit dieser Kandidatenentscheidung.
Speziell CSU-Chef Markus Söder hat wiederholt gegen Armin Laschet gestichelt...
GRÖHE Die Kandidatenfindung hat anhaltende Spannungen zwischen CDU und CSU nach sich gezogen. Das muss man jetzt nicht wortreich beklagen, sondern beenden.
Soll die Basis direkt über den CDU-Vorsitz entscheiden?
GRÖHE Ich bin ein Anhänger der repräsentativen Demokratie auch in der Partei. Die Erfahrungen der SPD, in einem monatelangen Wettlauf zwei Vorsitzende zu wählen, die man dann im Wahlkampf versteckt, und Erfolg zu haben mit einem im Hinterzimmer ausgeguckten Kanzlerkandidaten, den die Mitglieder vorher als Parteivorsitzenden verworfen hatten, zeigen, dass auch eine Basisabstimmung kein Allheilmittel ist. Ich will sie aber auch nicht ausschließen, wenn es mehrere Kandidaten für den Parteivorsitz gibt. Klar ist für mich: Bei inhaltlichen und personellen Fragen müssen wir stärker in unsere Partei wie in unsere Gesellschaft insgesamt hineinhören.
Aus der Partei kommen teils sehr harte Forderungen mit Blick auf den personellen Wechsel an der Parteispitze...
GRÖHE …und das ist doch wahrlich verständlich! Es wäre doch seltsam, wenn unserer Parteibasis nach einer solchen krachenden Niederlage in Trauer und Stille verfiele. Hinter den selbstbewussten Äußerungen, zum Beispiel des Neusser Vorsitzenden der Jungen Union, Niklas Fürste, steckt doch eine tolle Bereitschaft, dafür zu arbeiten, dass unsere Partei wieder stärker wird, besser. Wir sollten in den jetzt notwendigen Debatten im Übrigen nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, sondern offen für alle sein, die sich gerade jetzt zu unserer Partei bekennen und sie wieder nach vorne bringen wollen. Dazu gehört auch, dass wir näher heran müssen an die Bevölkerung in ihrer Breite, wie es die Dormagener CDU-Vorsitzende Anissa Saysay formuliert hat.
Hat die CDU den Kontakt zu bestimmten Teilen der Gesellschaft verloren?
GRÖHE Als Jahrzehnte lang prägende politische Kraft – auch hier in unserer Heimat – müssen wir uns fragen, wie wir mehr Menschen erreichen als Alteingesessene mit einer traditionellen Nähe zu uns. Diese Verankerung gibt uns zwar Stärke und muss gepflegt werden, reicht aber alleine nicht aus. Wie erreichen wir mehr Menschen, die wir nicht in Wirtschaft, Kirche, Sport oder Brauchtum treffen? Wie werden wir einladender für Neuhinzugezogene mit und ohne Migrationshintergrund? Nehmen wir nur die wahr, die selbstbewusst mitgestalten, oder auch diejenigen, die sich abgehängt fühlen? Wir müssen den Veränderungen in unserer Gesellschaft und den sich damit wandelnden Anforderungen an die Politik stärker Rechnung tragen.
Ist die CDU für junge Menschen überhaupt noch attraktiv?
GRÖHE Es kann uns nicht ruhen lassen, dass sich junge Wähler bei der Bundestagswahl vor allem in Richtung FDP und Grüne orientiert haben. Da muss sich eine Volkspartei fragen: Warum waren wir nicht einladend genug?
Was haben denn FDP und Grüne vor der Bundestagswahl besser gemacht?
GRÖHE Es fällt auf, dass mit der FDP und den Grünen zwei bisherige Oppositionsparteien bei den jungen Wählern erfolgreich waren. Als Regierungsparteien wurden Union und SPD offensichtlich stark mit dem verbunden, was in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen ist, zum Beispiel in Sachen Digitalisierung. Außerdem waren die Wahlkampagnen von Grünen und FDP moderner. Unsere Kampagne hat den Modernisierungsanspruch, der ja ein zentraler Teil unseres Programms war, nicht deutlich gemacht.
War die CDU auch inhaltlich zu wenig profiliert?
GRÖHE Vielleicht ist das die größte Herausforderung: Eine Volkspartei wägt ab. Es ist nicht leicht, das in attraktiver Weise zu vermitteln: ein Sowohl-als-auch, eine Politik für Wirtschaftsstärke und Klimaschutz, für wirtschaftliche Vernunft und soziale Verantwortung, und anderes mehr. Die FDP dagegen betont ganz stark das Freiheitliche und Wirtschaftsliberale. Die Grünen setzen auf das Thema Klimaschutz. Beiden Parteien fällt es deshalb leichter zuzuspitzen, was jedoch auch mit einer gewissen Einseitigkeit einhergeht. Das war in diesem Wahlkampf ein Vorteil, führt aber gewiss nicht zu guter Politik für alle in unserer Gesellschaft.
Ist die CDU überhaupt noch eine Volkspartei?
GRÖHE Auf jeden Fall. Volkspartei zu sein, ist ja vor allem ein Anspruch an uns selbst. Wir wollen für alle Menschen in diesem Land Politik machen, für Stadt und Land, für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Diese Breite haben wir vor der Bundestagswahl programmatisch und personell nicht genug deutlich gemacht. Mit den christlich-demokratischen Leitprinzipien von Freiheit, Verantwortung und Solidarität haben wir aber den richtigen Rahmen, um weiter eine zusammenführende Rolle zu spielen. Auch die SPD wird in der Ampel versuchen, ihre Integrationsfähigkeit und ihren Charakter als Volkspartei wieder zu festigen. Das heißt: Es wird ein Ringen darum geben, wie eine moderne Volkspartei erfolgreich sein kann.
Sie gelten als ein Befürworter von Schwarz-Grün und haben viele Kontakte zu den Grünen. Sind Sie enttäuscht, dass die Grünen jetzt sehr klar die SPD vorziehen?
GRÖHE Wenn die Umgestaltung unserer Industriegesellschaft hin zur Klimaneutralität die Zukunftsaufgabe schlechthin ist, dann hätte ein Jamaika-Bündnis genau dafür stehen können. Ich hätte mir das – auch vor vier Jahren schon – gewünscht und der Union die Führung einer solchen Partnerschaft mit FDP und Grünen zugetraut. Eine solche Koalition über große Meinungsverschiedenheiten hinweg ist nicht leicht, ob Ampel oder Jamaika, sie ist aber für die Gesellschaft eine Chance. Mein Wunsch wäre es gewesen, dass die CDU dabei ist.
Wie stabil wird die Ampel sein?
GRÖHE Alle Beteiligten haben ein Interesse daran, dass die Koalition gelingt. Die CDU darf nicht auf ein kurzfristiges Scheitern setzen. Wir müssen das neue Bündnis ernst nehmen, wenn es denn kommt. Zugleich fällt auf, dass die SPD in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ein Bündnis mit der Linken vorgezogen hat. Wenn wir es richtig machen, haben wir alle Chancen, wieder ein Angebot zu machen, das die Menschen überzeugt.
Was bedeutet die Ampelkoalition für den Rhein-Kreis?
GRÖHE Im Ampel-Sondierungspapier heißt es ja, der Kohleausstieg solle „idealerweise“ bereits 2030 stattfinden. Wir werden – gemeinsam mit der Landesregierung – dafür kämpfen müssen, dass dies nicht zu Lasten unserer Region geht, dass alle Zusagen eingehalten werden. Nur so wird der Strukturwandel hier ein Erfolg, ein Vorbild beim globalen Klimaschutz. Gut, dass wir hier mit dem Strukturstärkungsgesetz ganz Wichtiges verankert haben. Gerade unsere energieintensive Industrie kann zum Klimaschutz Wichtiges beitragen – aber nur, wenn man ihren Umbau ermöglicht. Dies setzt sichere und bezahlbare Energie voraus. Und bei der beabsichtigten Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung wünsche ich viel Erfolg! Bisher standen da SPD und Grüne immer auf der Bremse!
Das vollständige Interview finden Sie auch hier.