Vom 1. Juli 2022 an gilt das "Elfte Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches II". So sperrig der Name, so gewichtig die Wirkungen: Mit dieser Neuregelung schafft die Regierungskoalition für ein Jahr fast alle Möglichkeiten ab, Hartz-IV-Bezieher zu ihren Mitwirkungspflichten anhalten zu können. Bis Juli 2023 können Jobcenter künftig keine Leistungen mehr kürzen, wenn etwa ein Hartz-IV-Bezieher eine zumutbare Arbeit ablehnt.
Wer künftig Termine beim Jobcenter versäumt, muss höchstens Kürzungen von zehn Prozent fürchten – und auch das erst, wenn er zum zweiten Mal säumig ist.
Die SPD hat auf ihren Wahlplakaten gerne und viel von Respekt gesprochen – aber wo bleibt bei diesem Gesetz die Achtung? Natürlich ist der Gang zum Jobcenter für viele Menschen bitter – besonders für die, die sich nie hätten vorstellen können, eines Tages staatliche Unterstützung zu benötigen.
Wenn nach dem Koalitionsvertrag der Ampel das als Ersatz für Hartz IV geplante Bürgergeld die "Würde des und der Einzelnen achten" soll, ist das entweder eine Selbstverständlichkeit – oder es unterstellt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern, sie würden ständig die Würde der Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger missachten.
Mitarbeiter und Arbeitslose unter Generalverdacht
Und welches Bild hat die Ampel von den Jobcentern, wenn sie ankündigt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu verändern, "dass künftig eine Beratung auf Augenhöhe möglich ist und eine Vertrauensbeziehung entstehen kann"? Es ist grundfalsch, diese Mitarbeiter, die mit hohem Einsatz versuchen, Langzeitarbeitslose, die nicht selten mehrfache Vermittlungshemmnisse haben, wieder in Lohn und Brot zu bringen, unter den Generalverdacht zu stellen, mit Arbeitslosen entwürdigend umzugehen.
Genauso wäre es ja auch grundfalsch, Langzeitarbeitslose unter den Generalverdacht der Arbeitsunwilligkeit zu stellen. Das bringt die Arbeit der Mitarbeiter der Jobcenter in Verruf und schert dabei alle über einen Kamm – ohne jede Achtung.
Für 90 Prozent ein Schlag ins Gesicht
Natürlich muss Verwaltung immer besser werden. Das ist ebenso wahr wie selbstverständlich. Wir schulden es den Arbeitslosen, dass die Unterstützungsangebote auch tauglich sind. Fortbildungen müssen zum jeweiligen Arbeitslosen passen, es sollte genug Plätze für psychologische und persönliche Betreuung geben, ältere Arbeitslose sollten langjährig im Betrieb erworbene Fähigkeiten auch anerkannt belegen können – und wo dies nicht der Fall ist, sollten Lösungen gesucht werden. Wir dürfen aber bei aller Kritik an Verwaltung nicht übersehen, dass gerade sie in den vergangenen 20 Jahren einen erheblichen Kulturwandel durchlebt hat – auch in den Jobcentern.
Gerade die Achtung fordert, dass Arbeitssuchende nicht allein gelassen, sondern zu regelmäßigen Terminen mit dem Ziel der Arbeitsvermittlung eingeladen, gefördert und begleitet werden. Solidarische Unterstützung nimmt Leistungsempfänger gerade dadurch ernst, dass Hilfe – wo immer möglich – auf Eigenverantwortung und Teilhabe zielt.
Wenn es um das Ziel geht, "Hartz IV zu überwinden", darf es nicht um eine parteipolitische Vergangenheitsbewältigung von SPD und Grünen gehen. Es muss vielmehr um die bestmögliche Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in Ausbildung und Arbeit gehen. Mitwirkungsverweigerung hinzunehmen heißt dagegen, Menschen aufzugeben.
Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, hat besonders anschaulich ein bedingungsloses Grundeinkommen als "Stilllegeprämie" für Menschen scharf kritisiert und gefordert, es dürfe niemand "ausgemustert" werden.
Hinzu kommt: Für alle diejenigen, die ihren Pflichten als Leistungsempfänger ganz selbstverständlich nachkommen, ist das Gesetz ein Schlag ins Gesicht. Denn für mehr als 90 Prozent der Empfänger von Arbeitslosengeld II spielen Leistungskürzungen bislang keine Rolle. Ausbaden müssen das Gesetz aber Mitarbeiter in den Jobcentern, denen jede Handhabe genommen wird, um beharrlichen Verweigerern zu begegnen.
Abschied vom Fördern und Fordern
Die weitgehende Abschaffung der Mitwirkungspflichten für Leistungsempfänger lässt zudem Achtung vor all denen vermissen, die unseren starken Sozialstaat erst ermöglichen: vor den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Tag für Tag pünktlich ihrer Arbeit nachgehen.
Denn sie sind es, die Steuern und Sozialabgaben zahlen. Sie sind es, die überhaupt erst die Mittel erwirtschaften, mit denen unser Sozialstaat Hilfe leisten kann. Wenn der Staat die Berufstätigen zur Zahlung von Steuern und Abgaben verpflichtet, dann übernimmt er damit auch die Pflicht, verantwortlich mit diesen Mitteln umzugehen.
Wer den Jobcentern jedes Mittel nimmt, um Mitwirkung durchsetzen zu können, verabschiedet sich vom Prinzip des Förderns und Forderns. Er legt damit die Axt an die Wurzel der Solidarität zwischen Berufstätigen und Arbeitslosen.
Schließlich besteht keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, die Möglichkeit für Leistungskürzungen abzuschaffen. Denn das Bundesverfassungsgericht, das im Jahr 2019 einige der Hartz-IV-Leistungskürzungen überprüft hat, hat diese Möglichkeit als solche gerade bestätigt. Was das Gericht gefordert hat, war vor allem, dass der Leistungsbezieher besser als bislang wieder den Weg zurück in den Leistungsbezug findet und dass es Härtefallregelungen gibt.
Es droht eine Zerreißprobe
Die Bundesanstalt für Arbeit hat diese Vorgaben seither ohnehin schon beachtet. Eine erhebliche Abschwächung oder gar Abschaffung möglicher Leistungskürzungen war weder vom Bundesverfassungsgericht gefordert noch wäre sie sachgerecht.
Der Sozialstaat steht vor erheblichen Herausforderungen. Gelingt es der Bundesregierung nicht, die besorgniserregenden Teuerungsraten zügig abzusenken, kann dies für unsere Gesellschaft zu einer Zerreißprobe werden.
Zugleich verschärft sich der Arbeitskräftemangel zusehends. Gerade in dieser Zeit schulden wir Langzeitarbeitslosen alle Anstrengungen, ihnen durch passgenaue Fort- und Weiterbildungsangebote Chancen in zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen zu eröffnen. Eine weitgehende Abschaffung der Durchsetzbarkeit von Mitwirkungspflichten schulden wir niemandem. Auch ein Schleichweg zum bedingungslosen Grundeinkommen ist ein Irrweg!
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