Liebe Leserinnen, liebe Leser,
über Sinn und noch mehr den Unsinn der Protestaktionen der selbsternannten „Letzten Generation“ wurde schon viel gestritten. In der letzten Woche beschmierte die Gruppe die Parteizentrale der FDP wie sie es vorher schon mit einem Kunstwerk eines jüdischen Künstlers in der Nähe des Reichstagsgebäudes getan hatte. Einige Mitglieder sind bereits verurteilt worden und das zurecht: Die Gruppe bringt sich selbst und andere regelmäßig in Gefahr. Sie nötigen Verkehrsteilnehmer, blockieren Zufahrten, die auch für Notarzteinsätze gebraucht werden. In dieser Woche kündigte die Gruppe an, Berlin lahm legen zu wollen. Der Protest soll erst enden, wenn die Bundesregierung auf ihre Forderungen eingeht. Eine solche Forderung ist undemokratisch. Mit kindischer Sturheit lässt sich eine Menschheitsherausforderung wie der Klimawandel nicht lösen. Das sei übrigens auch Klimawandelleugnern gesagt. Was wir brauchen sind Ideen. Und es braucht Menschen, die anpacken.
Unser Rhein-Kreis Neuss ist dafür ein tolles Beispiel. Unsere Region erfindet sich derzeit neu. Der Braunkohleausstieg 2030, neue Wege der Stromerzeugung sowie die Anpassungen in den Betrieben sind nämlich zunächst eines: Sehr viel Arbeit! Arbeit für den Kopf, weil neue Technik erfunden und auch verkauft werden muss. Das heißt auch, es braucht Bildung durch neue Ausbildungsberufe, Umschulungen und Forschung. Und ja, es muss auch in die Hände gespuckt werden. Neue Heizungen, Leitungen, Solarpanels, Dämmungen und vieles mehr muss transportiert, verlegt, eingebaut und gewartet werden. Doch die Menschen, die jeden Tag anpacken, sind genervt. Genervt, wenn Ängste nicht ernst genommen werden. Eine Umschulung, ein neuer Job mitten im Erwerbsleben ist eine gewaltige Veränderung. Das bringt Unsicherheit mit sich. Deshalb sind die Menschen noch viel mehr von neunmalklugen Ratschlägen vom Seitenrand genervt. Es ist respektlos, von anderen Menschen zu verlangen, ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen, selbst aber nicht mehr beizutragen, als sich irgendwo anzukleben. Darunter leidet dann beispielsweise der Handwerker früh morgens auf dem Weg zur Baustelle. Aber es leidet darunter auch der demokratische Zusammenhalt. Deswegen: Anpacken statt ankleben!
Es grüßt Sie herzlich aus Berlin
Ihr Hermann Gröhe
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Hermann Gröhes "Berliner Notizen" finden Sie auch hier im E-Paper auf Seite 5.